P3 3-4/2022 de

Nähen mit Gin Tonic

„Integrität ist das Wichtigste!“

Paper & People

Die „Papierpionierin“ Jennifer Collier kreiert exquisite Skulpturen aus recycelten Vintage-Papieren - mit ihrer Nähmaschine; eine zeitgemäße Variante traditioneller Textilien. Die Papiere dienen sowohl als Inspiration als auch als Medium für die Arbeit, wobei sich die Form oftmals aus den Inhalten ergibt. Durch die Verbindung von eher untypischen Materialien werden alte Papiere in etwas wirklich Einzigartiges verwandelt - gleichzeitig komplex und zerbrechlich. P3 / Paperazzo nahm sich viel Zeit für ein ausführliches Gespräch – hier ist der Director’s Cut!

Jennifer, geben wir unseren Lesern doch zunächst einmal einen ersten Eindruck: Welche Motivation und welche prägenden Ereignisse haben dich an den Punkt in Leben und Arbeit gebracht, an dem du jetzt stehst? Und was war ausschlaggebend, dich genau dieser Art von Arbeit zu widmen?

Mein Studiengang (BA Hons Textiles) war darauf ausgerichtet, IT-Studenten auf die Industrie vorzubereiten, aber ich habe ziemlich früh gemerkt, dass das nicht das ist, was ich tun möchte, sondern dass ich jedes Stück mit meinen eigenen Händen herstellen möchte. Also bewarb ich mich nach meinem Abschluss um ein Stipendium und bekam als erstes eins in einer Galerie. Dies brachte mich dazu, meine eigenen Arbeiten herzustellen und zu verkaufen - und Kunstworkshops durchzuführen, was in dieser Übergangsphase meiner Karriere perfekt war. Die nächste Residency, die ich machte, war im Museum of Science and Industry in Manchester im Rahmen des „Setting Up Scheme“ der North West Arts Boards. Dadurch erhielt ich ein kostenloses Studio sowie einen Unterhalts- und Ausstattungszuschuss, sodass ich Geld und Zeit hatte, um mich in meiner Anfangszeit geschäftlich einzurichten.

Wie sieht dein täglicher Arbeitsplatz aus? Ist er aufgeräumt oder eher durcheinander?

Ich arbeite in meiner eigenen zeitgenössischen Kunsthandwerksgalerie mit Künstleratelier und Werkstätte, Unit Twelve. Gegründet im Mai 2010 als von Künstlern geführter Raum, haben wir ein ganzjähriges Programm mit hochwertigen Ausstellungen und Workshops zeitgenössischen Kunsthandwerks entwickelt und fünf Künstlern Atelierräume zur Verfügung gestellt. Wir bieten auch eine Lernerfahrung in einer recht privaten Atmosphäre mit den besten Ausstellern des Landes an, die wiederkehrende Besucher lokal, national und sogar international anzieht. Da Unit Twelve für die Öffentlichkeit zugänglich ist (Donnerstag - Samstag, jeweils 10 - 16 Uhr), muss ich ordentlich arbeiten – an den Tagen, an denen wir nicht geöffnet haben, neige ich dazu, mich auszubreiten und an größeren Stücken oder Aufträgen zu arbeiten, aber an Tagen, an denen wir für Publikum geöffnet haben, stelle ich sicher, dass der Raum ansehnlich aussieht - auch wenn es nur das organisierte Chaos eines Arbeitsstudios ist.

Kannst du beschreiben, wie der Weg von der Idee bis zur Fertigstellung eines neuen Stücks aussieht?

In der Praxis konzentriere ich mich auf die Erstellung von Arbeiten aus Papier. Ich produziere „Stoffe“ aus Papier, die verwendet werden, um das „Remake“ von Haushaltsgegenständen zu erforschen. Die Papiere werden wie Stoff behandelt, wobei die Haupttechnik das Nähen ist; gewissermaßen eine zeitgemäße Variante traditioneller Textilien. Die Papiere selbst dienen sowohl als Inspiration als auch als Medium für meine Arbeit, wobei die Inhalte der Bücher und Papiere oftmals die spätere Form suggerieren, zum Beispiel eine Nähmaschine aus Schnittmustern oder eine Kamera aus alten Fotografien. Meine Arbeitsweise basiert im Wesentlichen immer noch auf den Abläufen meiner bisherigen Arbeit und meiner Textilausbildung – ein Muster erstellen, eine Toile herstellen, um zu prüfen, ob das Muster oder die Schablone „funktionieren“, und dann das „echte“ Werk aus schönen, recycelten Papier-Fundstücken zu erstellen. Für den Laien wirkt es ein bisschen so, als würde man das Netz einer Kiste von Grund auf zeichnen, ausschneiden, falten und konstruieren; aber meine Formen sind viel komplizierter …

Ich glaube ehrlich, dass man am besten lernt, wenn man keine Angst hat, Fehler zu machen.

Jennifer Collier, zeitgenössische Kunsthandwerkerin.

Erhältst du immer das gewünschte Ergebnis oder gibt es auch Arbeiten, die dich unzufrieden zurücklassen?

Nein zu erstem, aber ich glaube ehrlich, dass man am besten lernt, wenn man keine Angst hat, Fehler zu machen. Auf diese Weise erlaubt man sich „happy accidents“. Alle Techniken, die ich jetzt in meiner Arbeit verwende, habe ich mir seit meinem Abschluss selbst beigebracht, indem ich mit verschiedenen Medien und Techniken experimentiert habe. Wahrscheinlich erblickt mehr als die Hälfte meiner Arbeiten nie das Licht der Welt, aber durch die andere Hälfte habe ich etwas wirklich Einzigartiges entdecken können.

Verwendest du andere Materialien als Papier, also Leder oder Stoffe?

Nein, all meine Arbeiten bestehen aus Papier. Ursprünglich habe ich 1999 an der Manchester Metropolitan University eine Textilausbildung mit einem BA (hons) Textiles abgeschlossen. Das war ein traditioneller Textilkurs mit Spezialisierung auf Drucken, Stricken und Weben. Gegen Ende des Kurses fing ich an, mit verschiedenen Materialien zu experimentieren, mit Orangenschalen zu weben, Fruchttüten zu schmelzen; alle möglichen Dinge, die meine Tutoren absolut nicht guthießen. Ich habe viele Jahre damit verbracht, die Qualitäten von Papier nachzuahmen, und plötzlich machte es einfach Sinn, es als Medium und Inspiration für meine Arbeit zu verwenden.

Hast du schon einmal darüber nachgedacht, Kleidung für Puppen zu entwerfen, zum Beispiel für ein Kindertheater?

Nein – ich hatte schon immer das starke Gefühl, dass meine Arbeiten eher als Kunsttextilien denn als Mode betrachtet werden sollten, und finde es interessanter, sie losgelöst von Körpern zu sehen.

Es fällt auf, dass du viele Gartenobjekte in deiner Sammlung hast. Magst du Gartenarbeit?

Ich liebe sie! Es ist immer schwierig, wenn dein liebster Zeitvertreib zu einem Job wird. Für mich ist das Nähen zur Arbeit geworden, also wurde stattdessen die Gartenarbeit zu meiner bevorzugten Freizeitbeschäftigung. Offen gestanden ist mir nichts lieber als ein bisschen Handarbeit im Garten mit einem Gin Tonic …

Was ist das Ziel hinter deiner Arbeit (abgesehen davon, dass es wahrscheinlich nicht schadet, Geld damit zu verdienen)? Ohne unnötig pathetisch klingen zu wollen: Hast du eine Message, die du vermitteln möchtest?

In erster Linie möchte ich diese schönen alten Papiere retten, die sonst weggeworfen würden und ungeliebt wären - und ich möchte mir Zeit nehmen, um mit verschiedenen Techniken zu spielen und einem Gegenstand neues Leben einzuhauchen. Ich hebe manche Dinge oft jahrelang auf, bevor ich überlege, was ich damit machen soll, oder „mutig“ genug bin, sie zu benutzen, weil ich sie nicht wegwerfen will … Ich genieße nichts mehr, als ein mit Essensflecken bekleckertes Kochbuch zu finden oder ein Taschenbuch mit Wasserschaden, das niemand sonst haben möchte - das ich vor der Mülldeponie retten und in etwas Schönes verwandeln kann.

Was ist deiner Meinung nach wichtiger, um heutzutage mit Kunst erfolgreich zu sein: Talent und Inspiration, eine fundierte Ausbildung oder zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein?

Ich glaube, alles, was du tust, ist ein Sprungbrett für den nächsten Schritt, den du tun wirst. Daher ist es wichtiger, hartnäckig zu sein – wenn die Leute Nein sagen, frag solange weiter, bis sie anfangen, Ja zu sagen.

Ich glaube, dass Integrität das Wichtigste ist, wenn man kommerziell arbeitet.

Jennifer Collier, zeitgenössische Kunsthandwerkerin.

Ist man als Künstler zwangsläufig ein Idealist oder muss man sich eine solche Einstellung angesichts offener Rechnungen leisten können? Wie schmal ist deiner Meinung nach der Grat zwischen Kunst und Kommerz, wenn man auf das Einkommen angewiesen ist?

Ich glaube, dass Integrität das Wichtigste ist, wenn man kommerziell arbeitet. Ich habe immer Kunstworkshops als Einnahmequelle geleitet, sodass ich nie gezwungen war, Arbeiten zu machen, hinter denen ich nicht absolut stehe. Meine Arbeit ist nicht jedermanns Sache, aber mir ist es auf jeden Fall lieber, wenn zehn Prozent der Leute sie mögen, statt Massenproduktion ohne Integrität zu machen, die jeder haben will.

Es mag an dieser Stelle merkwürdig klingen, aber hatte Musik (allgemein oder ein bestimmter Stil) einen Einfluss auf deine Arbeit?

Nicht besonders – allerdings kann ich nicht in vollkommener Stille arbeiten, also lasse ich meistens das Radio an, wenn ich arbeite, und singe laut mit, wenn es ein Lied ist, das ich besonders mag.

Gibt es andere künstlerische Ausdrucksformen, die dich in Zukunft ansprechen könnten?

Ich habe keine Ahnung, aber ich bin eigentlich immer offen für Experimente und Spiele, um mich weiter zu entwickeln.

Ich glaube, dass es die Aufgabe eines jeden ist, auf Missstände und Makel in der Welt hinzuweisen.

Jennifer Collier, zeitgenössische Kunsthandwerkerin.

Eine Frage, die derzeit eine gewisse Brisanz hat: Sind heutige Künstler deiner Meinung nach verpflichtet, politische und gesellschaftliche Statements abzugeben, um auf die weltweiten Probleme und Missstände hinzuweisen? Wie denkst du über den Krieg in der Ukraine?

Ich betrachte mich primär als zeitgenössische Kunsthandwerkerin denn als Künstlerin, und als solche liegt mein Schwerpunkt eher auf der Erstellung schön gestalteter Papierskulpturen denn auf bildender Kunst. Ich habe mich zwar dafür entschieden, meine Meinung mittels der Arbeit, die ich mache, nicht zu äußern, aber dennoch glaube ich, dass es die Aufgabe eines jeden ist, auf Missstände und Makel in der Welt hinzuweisen, sei es in Gesprächen mit Freunden, Interaktionen mit Dritten oder über soziale Medien. Da mein Mann auch Kunsthandwerker ist, haben wir als Familie Geld für die Ukraine gesammelt, indem wir Kunstwerke versteigert haben.

Kann man dich mit einem konkreten Job beauftragen - und wenn ja, was müsste ein Interessent dafür tun?

Nehmt einfach Kontakt auf! Ich verkaufe über den wundervollen Shop madebyhandonline.com, wo Leute Artikel aus meinem Sortiment direkt in Auftrag geben können. Aber ich mache auch ortsspezifische Arbeiten, zum Beispiel für Kulturerbestätten oder öffentliche Kunstaufträge.

Letzte Frage: Wie verbringst du am liebsten Ihre Freizeit?

Nähend im Garten, mit einem Glas Gin Tonic – siehe oben! (lacht)

Jennifer, vielen Dank für das Gespräch.

(Anm. d. Red. für unsere Leser: Für weitere Informationen empfehlen wir einen Besuch auf http://www.jennifercollier.co.uk/ und verweisen insbesondere auf die dort aufgeführten FAQs.)

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