P3 5-6/2021 de

Leipziger Typotage

Schrift als Medium der Orientierung

Typografie

Der Begriff „Navigation“, ursprünglich ein Terminus der Nautik, beschrieb zunächst das Steuern zu einem Zielpunkt zu Wasser, Land oder in der Luft. Heute umfasst er ein allgemeines Sich-Zurechtfinden – in topografischen Räumen, in digitalen Räumen, in Druckwerken. Schrift und Zeichen spielen dabei eine wesentliche Rolle, weswegen sich die diesjährigen Typotage um genau dieses Thema drehten und sich diesem aus verschiedenen Richtungen annäherten.

„Schrift und Navigation“ lautete der Titel der 26. Ausgabe, die am 5. Juni 2021 im Museum für Druckkunst Leipzig stattfand, und ergründete, wie Schrift das Zurechtfinden im Alltag erleichtert, Arbeitsprozesse optimiert, das Auge elegant durch Texte navigiert oder den sich wandelnden Ansprüchen unserer Welt gerecht wird. Sieben Sprecherinnen und Sprecher aus Praxis und Forschung gaben Einblick in ihre Projekte und luden ein zur Diskussion.

Die Tagung begann mit dem Naheliegenden: Schrift in Karten. Jana Moser (Leibnitz-Institut für Länderkunde, Leipzig) berichtete von der Gratwanderung zwischen Informationsvermittlung und Ästhetik. Karten müssen oft eine Vielzahl von Informationen wiedergeben, wobei die Typografie eine entscheidende Rolle spielt und nicht vernachlässigt werden darf. Oft ist es erst die Schrift, die als erläuterndes Element Sinn entstehen lässt.

Von der zweidimensionalen Karte in den dreidimensionalen Raum ging es mit Jay Rutherford (Bauhaus-Universität Weimar), der von einem Projekt mit Studierenden im indischen Ahmedabad berichtete. Dort wurden interdisziplinäre Ansätze erprobt, einerseits mit nicht vorhandenen Schildern und andererseits mit Schilderwäldern in indischen Großstädten umzugehen. Eine zusätzliche Herausforderung stellen dabei die unterschiedlichen regionalen Sprachen Indiens dar, die in mehrsprachigen Schildern resultieren: Hindi, Englisch und eine regionale Sprache mit jeweils eigener Schrift. Dieser Aspekt wird in der Typografie eine immer größere Rolle spielen, da Gestaltung zunehmend international funktionieren, sich also regionalen Schriftsystemen und Sehgewohnheiten anpassen muss.

Im Beitrag von Julian Jarosch (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz) stand der Text an sich im Mittelpunkt. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit der Blickbewegung beim Lesen von Texten und damit, welche Rolle texttypografische Variablen dabei spielen. Konkret erläuterte er seine Versuche mit dicktengleichen Schriften (Nichtproportionalschriften), deren Einfluss auf Leserlichkeit und Sprachverarbeitung er durch Eyetracking-Experimente misst. Dabei stellte er fest, dass es bei dicktengleichen Schriften zu einer kognitiven Anpassung beim Rezipienten oder der Rezipientin kommt und nur geringe Auswirkungen auf Lesegeschwindigkeit und Textverständnis vorliegen. Proportionale Schriften wurden von den Testpersonen etwas besser erfasst. Nach kurzer Anpassung navigiert das Auge jedoch bei beiden Schriftvarianten erfolgreich durch den Text. Die Experimente sind allerdings noch nicht abgeschlossen.

Ganz praktisch wurde es mit Nico Wüst (Strichpunkt Design, Stuttgart), der verschiedene Projekte aus dem Bereich Modular Brand Design vorstellte. Modulare und variable Gestaltung ist vor allem im Kontext unterschiedlicher Ausgabemedien interessant und kann Gestaltungsabläufe optimieren. Eine wachsende Rolle wird dabei auch das Thema künstliche Intelligenz einnehmen, die zwar die Gestalterin bzw. den Gestalter nicht ersetzen, aber durch bestimmte Standardisierungen unterstützen kann.

Benjamin Schöndelen (Deutschlandradio, Berlin) gestaltet den visuellen Relaunch-Prozess von Deutschlandfunk Kultur und öffnete den Teilnehmenden die Augen für den Zusammenhang von Typografie und Radio. Immer seltener wird einfach ein Radio eingeschaltet, da mehr und mehr Menschen Radio über mobile Endgeräte hören oder das Programm unabhängig von der Sendezeit als Podcast konsumieren. Es bedarf also zunehmend der Navigation und der visuellen Darstellung. Dies wurde einerseits durch eine Vereinfachung der Webseitenstruktur erreicht, andererseits durch mikrotypografische Anpassungen. Mit dem Relaunch im November 2021 wird zum Beispiel die Anzahl der bisher verwendeten Schriftschnitte reduziert. Anpassungen im Code sorgen darüber hinaus für einheitliche Anführungszeichen und Apostrophe.

Der Fokus von Claudia Friedrichs‘ (zweigrad Design, Hamburg) Beitrag lag auf der praktischen Umsetzung und zeigte, wie stark der jeweilige Kontext die Gestaltung beeinflusst. Anhand zweier Beispiele machte sie deutlich, wie wichtig der enge Kontakt zu den Anwenderinnen und Anwendern ist. Optimale Funktionalität kann nur durch Kompromisse in der Gestaltung herbeigeführt werden. Geräte für den Einsatz auf Baustellen müssen andere Voraussetzungen erfüllen, als solche für die private Anwendung im Innenraum. Welche genau das sind, kann nicht allein am Schreibtisch erörtert werden, sondern bedarf der Ergänzung mit Erfahrungen aus der Praxis.

Zum Abschluss sprach Nadya Kuzmina (Interface Designerin, Berlin) über Typografie in Videospielen und schuf dabei eine Verbindung zur Eröffnung der Typotage am Vorabend. Unter dem Titel „Typo-Play“ lud das Leipziger Spielekollektiv „People Can Play“ dazu ein, sich spielerisch mit Typografie auseinanderzusetzen. Der Kurzvortrag und ein „Let’s Play“ sind auf dem YouTube-Kanal der Leipziger Typotage verfügbar. Nadya Kuzmina vertiefte das Thema in ihrem Vortrag und machte deutlich, dass Typografie in Videospielen ein unterschätztes Feld ist und viel Raum für Experimente bietet.

Die Leipziger Typotage sind eine Veranstaltung der Gesellschaft zur Förderung der Druckkunst Leipzig e.V., die seit 1995 jährlich im Museum für Druckkunst Leipzig stattfindet. Inhaltliche Schwerpunkte der Tagung sind neben Schrift und Typografie auch Grafik-Design, Kunst, Herstellungstechniken im Printbereich und verwandte Themen. Es geht um Fragestellungen im analogen wie digitalen Kontext mit Blick in die Geschichte und auf innovative Entwicklungen für die Zukunft. Unter einem jährlich wechselnden Themenschwerpunkt werden Praxisbeispiele, historische Bezüge und Forschungsergebnisse diskutiert.

Das Museum für Druckkunst bietet eine einzigartige Kulisse für die Tagung. Auf vier Etagen befinden sich historische, voll funktionsfähige Gieß-, Setz- und Druckmaschinen, die täglich vorgeführt werden. Es ist ein lebendiger industriekultureller Ort, der Werkstattbetrieb und Museum verbindet und sich dem Immateriellen Kulturerbe Drucktechniken verschrieben hat. Regelmäßig stattfindende Workshops bieten außerdem die Möglichkeit, selbst Texte zu setzen und zu drucken. Bei dem reichen Bestand an Bleisatzschriften und mit der Unterstützung des Fachpersonals werden sowohl Anfänger als auch versiertere „Setzer“ glücklich. Dabei merkt so mancher, dass die Gestaltung eines Texts mehr erfordert, als nur Buchstaben zusammenzusetzen. Denn Typografie ist eine Kunst; sie gestaltet Informationen. Dabei liegt der Fokus stets auf der Lesbarkeit, denn Typografie beeinflusst die Informationsvermittlung positiv oder negativ. Heute wird der Begriff breiter gefasst und auf die Gestaltung von Kommunikationsmedien allgemein ausgeweitet. Die Mittel der Gestaltung sind Schrift, Bilder, Linien, Flächen und Leerräume. Jan Tschichold sagte einmal: „Gute Typographie ist […] da und doch nicht bemerkbar; unauffällig, aber eine Voraussetzung des Wohlbefindens, lautlos, geschmeidig […] Gute Schrift, richtige Anordnung; das sind die beiden Pfeiler aller Schriftkunst.“

Man unterscheidet Makro- und Mikrotypografie. Bei der Makrotypografie geht es um die Gesamtgestaltung einer Seite, wie Seitenformat, Satzspiegel, Satzart, Schriftgrößen Zeilenbreite oder Worttrennungen. Außerdem spielt die Platzierung von Bildern oder Grafiken, sowie das Mengenverhältnis von Schrift zu Bild eine Rolle. Die Mikrotypografie wird auch Detailtypografie genannt und beschäftigt sich mit den Feinheiten. Es geht um die Wahl der Schriftart, den Umgang mit Kapitälchen (Großbuchstaben) oder Ligaturen (Buchstabenverbindungen), um die Abstände der Zeichen, Worte und Zeilen sowie die Orthografie. Während die ersten Punkte großen gestalterischen Spielraum lassen, gibt es bei der Orthografie klare Regeln, zum Beispiel in Bezug auf das Format von Anführungszeichen und Gedankenstrichen. Besonders Abstände haben großen Einfluss auf Lesetempo und Lesbarkeit. Eng stehende Worte und Zeilen strengen mehr an als ein luftiger Satz, in dem das Auge klar geführt wird.

Das wichtigste Gestaltungsmittel der Typografie ist die Schrift. Gängig ist die Klassifikation in 11 Gruppen: Venezianische Renaissance-Antiqua, Französische Renaissance-Antiqua (z.B. Garamond), Barock-Antiqua (z.B. Times), Klassizistische Antiqua, serifenbetonte Linear-Antiqua (auch Egyptienne genannt), serifenlose Linear-Antiqua (auch Grotesk genannt, z.B. Helvetica), Antiqua Varianten, Schreibschriften, handschriftliche Antiqua, gebrochene Schriften (z.B. Fraktur) und fremde Schriften (z.B. Kyrillisch). Herangezogen wurden für die Einordnung sowohl formale, als auch historische Kriterien. Die Wahl der Schrift beeinflusst Lesbarkeit und Ästhetik und orientiert sich an der Textart und dem Schriftträger.

Mitte des 15. Jahrhunderts entwickelte Johannes Gutenberg nicht nur das Drucken mit beweglichen Lettern, sondern auch die Typografie. Mit der ersten Druckschrift, der Textura, waren auch Entscheidungen über Buchstabenformen, Abstände oder Hervorhebungen nötig. Es handelte sich um Überlegungen, die zwar auch für Handschriften relevant waren, aber individuell gehandhabt wurden. Die Arbeit der Prototypografen – so werden die Typografen der ersten Generation im 15. Jahrhundert bezeichnet – wurde über die folgenden Jahrhunderte verfeinert. Typografische Maßsysteme und Begriffe, die sich größtenteils vom 17. bis ins 19. Jahrhundert entwickelt haben, finden bis heute, auch im digitalen Kontext, Anwendung. Der Punkt als Maß für die Schriftgröße zum Beispiel geht auf die Franzosen François Ambroise und Firmin Didot zurück. Ende des 18. Jahrhunderts definierten sie einen Punkt mit 0,376 Millimetern, woran sich auch deutsche Schriftgießereien orientierten. Neben dem Französischen Punkt, gab es auch den Amerikanischen und mit Einführung des Desktop-Publishing in den 1980er Jahren den PostScript-Punkt, der auch von den heute gängigen Textverarbeitungsprogrammen verwendet wird. Viele der heute genutzten Schriftarten haben ihren Ursprung ebenfalls im Bleisatz. Die Times zum Beispiel wurde 1931 für die Zeitschrift „The Times“ entworfen, die Futura 1927 von Paul Renner gestaltet. Beides sind zeitlose Schriften, die noch heute neben vielen anderen, wie Garamond, Bodoni oder Walbaum, Anwendung finden. Das Erweitern der Zeichenabstände, das „Spationieren“, stammt ebenfalls aus dem Handsatz. Spatien sind schmale Metallstreifen, die Zwischenraum erzeugen. Wenn man sich näher mit Schriftguss und Handsatz beschäftigt, stößt man immer wieder auf Begriffe, die wir heute meist ohne Kenntnis ihres Ursprungs im digitalen Umgang mit Schrift verwenden.

Eine der größten Herausforderungen im digitalen Gestalten mit Schrift sind die unterschiedlichen Ausgabegeräte. Die Inhalte sind nicht mehr unveränderbar, wie im gedruckten Buch, sondern passen sich verschiedenen Formaten an. Diese Variabilität muss von vornherein mitgedacht werden, damit Inhaltsvermittlung in verschiedenen Darstellungsarten funktioniert.

Schrift ist allgegenwärtig, gute Typografie nicht. Sie ist jedoch Voraussetzung dafür, dass Schrift mühelos gelesen und verstanden werden kann. Was ist nun gute Typografie? Das hängt ganz klar vom Bewertungsrahmen ab und verändert sich mit dem Zeitgeist. Auf jeden Fall müssen Inhalt und Form in einem sinnvollen Verhältnis zueinander stehen. Die Form muss dem Inhalt dienlich sein, was verschiedene Interpretationen zulässt, sich aber in dem Grundsatz „Die Form folgt der Funktion“ kondensiert. Doch wie Vieles erfordert Typografie nicht nur das Befolgen von Regeln, sondern vor allem Übung.

Die 27. Leipziger Typotage finden im Frühjahr 2022 im Museum für Druckkunst und online statt.

www.typotage.de
www.druckkunst-museum.de

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